Die Macht der Buchstaben: Schrift und Identität im modernen Südasien
Forschungsprojekt durchgeführt von Prof. Dr. Carmen Brandt
Obwohl die südasiatischen Länder nicht nur reich an Sprachen, sondern auch Schriften sind, gibt es bis heute nur wenige Studien zu den politischen und soziokulturellen Funktionen von Schrift in Südasien. Anhand einer vergleichenden Studie von Fallbeispielen aus Bangladesch, Indien und Pakistan widmet sich dieses Forschungsprojekt der heutigen Rolle von Schrift — sowohl für die Identität ethnolinguistischer und religiöser Minderheiten als auch für die Nationenbildung südasiatischer Staaten. Anhand der Untersuchung von Schriftbewegungen werden so nicht nur Einblicke in die Identitätsbildung von Minderheiten gewährt, sondern zudem der Umgang der jeweiligen Staaten mit ihren ethnolinguistischen und religiösen Minderheiten beleuchtet. Dies ist besonders interessant, da diese drei geopolitischen Entitäten zur gleichen Zeit (1947) ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht erlangten, jedoch sehr unterschiedliche soziolinguistische Voraussetzungen mit sich brachten: Während Indien auch noch heute eine enorme Sprach- und Schriftvielfalt aufweist, führten unter anderem die dominante Rolle der bengalischen Sprache im damaligen Ostpakistan (heute Bangladesch), die dadurch historisch gewachsene linguistisch recht homogene Situation und der Drang der Bildungseliten, diese aufrecht zu erhalten, 1971 zu dessen Unabhängigkeit von Pakistan. Sprache und Schrift in Form von Urdu und der Nastaʿlīq, einer Variante der arabischen Schrift, wurden im heute monoskriptalen, aber ansonsten linguistisch heterogenen Staat Pakistan zu einem exklusivistischen und bedrohlichen Instrument zur Nationenbildung, mit der sich breite Teile der ostpakistanischen Bevölkerung nicht identifizieren konnten und stattdessen ihren eigenen Nationalismus entwickelten. In einer ähnlichen Situation befinden sich heute insbesondere Angehörige ethnolinguistischer Minderheiten, die im Fokus dieses Forschungsprojektes stehen, wie z.B. die Chakmas (Bangladesch und Indien), Santals (Bangladesch und Indien), Meiteis (Indien) und Baltis (Pakistan), unter denen Schrift in den letzten Jahrzehnten zu einem essentiellen Symbol ethnischer Differenz geworden ist.