Fachbeschreibung und Fachgeschichte
Religionswissenschaft in Bonn
Das Fach Religionswissenschaft ist eine historisch und zugleich systematisch arbeitende Kulturwissenschaft. Ausgehend von Quellentexten und vergleichbaren Materialien werden religiöse Systeme, wie sie im Lauf der Religions- und Geistesgeschichte artikuliert wurden, unter geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Gesichtspunkten beschrieben. Dabei werden in ausgewogener Weise sowohl die historische Entstehung und Entwicklung als auch die Bedeutung von Religionen für die unterschiedlichsten Lebensbereiche nachgezeichnet. Die jeweilige Beschäftigung mit konkreten Religionen trägt dabei wesentlich zum Verständnis fremder Traditionen sowie politischer, sozialer, ökonomischer oder kultureller Gegebenheiten bei. Aufgrund der Globalisierung und der damit verbundenen weltweiten Verbreitung vormals lokal beschränkter Religionen treten dabei auch Wirkungsgeschichte und Transformation religiöser Ideen sowie der Religionskontakt vermehrt in den Blick religionswissenschaftlicher Forschung.
Das seit 1920 existierende Religionswissenschaftliche Seminar der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn wurde bislang durch das Wirken von fünf Professoren als Direktoren des Seminars geprägt. Zum 1. August 2023 hat Prof. Dr. Adrian Hermann die Leitung der Bonner Religionswissenschaft übernommen.
Carl Clemen (1865-1940), älterer Bruder des berühmten Kunsthistorikers Paul Clemen, lehrte bereits seit 1903 an der Universität Bonn, zunächst in der Evangelisch-Theologischen Fakultät, von 1910 an in der Philosophischen Fakultät. Sein Lehrgebiet umfasste "Religionsgeschichte, Religionsphilosophie und Geschichte des ältesten Christentums". 1920 wurde das Religionswissenschaftliche Seminar gegründet und Carl Clemen zu seinem ersten Direktor ernannt. In den frühen Jahren des Seminars schwankte die Zahl der Studierenden um 10 - paradiesische Zustände, möchte man meinen -, aber immer wieder klagte Clemen über die mangelhafte Unterbringung und über fehlende Mittel zur Anschaffung der notwendigsten Bücher. Clemens Forschungsschwerpunkte lagen einerseits auf dem Verhältnis des frühen Christentums zu den religiösen Strömungen der Antike. Auch auf die Beziehungen des von Zarathustra geprägten Iran mit der Welt der Griechen und Römer legte er sein Augenmerk. Dabei ging Clemen stets von Quellentexten aus, die er auf seine Fragestellungen hin auswertete.
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Literatur: Ulrich Vollmer: Carl Clemen und die Religionsgeschichte. Berlin: Peter Lang 2021 (= Religionswissenschaft 23).
Ganz anders ausgerichtet war der methodische Ansatz von Gustav Mensching (1901-1978), der Clemen im Jahr 1942 als Direktor des Seminars nachfolgte und dieses Amt bis 1970 innehatte. Mensching fragte nach den Grundstrukturen und den phänomenologischen Konstanten in der Vielfalt der Religionen, wobei eine solche synthetisierende Aufarbeitung nur um den Preis der Aufgabe historischer Entwicklungen oder konkreter Propria einer Religion möglich ist. Daneben sah sich Mensching auch als einen der Pioniere der Religionssoziologie, die er freilich nicht als rein statisch- deskriptive Disziplin betrieb, sondern am geisteswissenschaftlichen Prinzip eines "Verstehens" orientierte. Im weiteren Verlauf seiner akademischen Tätigkeit trat immer mehr sein Eintreten für interreligiöse Toleranz hervor, genährt von der Suche nach phänomenologischen Gemeinsamkeiten aller Religionen.
Literatur: Wolfgang Gantke / Karl Hoheisel / Wilhelm-Peter Schneemelcher (Hg.). Religionswissenschaft im historischen Kontext: Beiträge zum 100. Geburtstag von Gustav Mensching. Marburg: Diagonal-Verlag 2003 (= Religionswissenschaftliche Reihe 21); Ulrich Vollmer: Die Religionswissenschaftler Carl Clemen (1865-1940) und Gustav Mensching (1901-1978), in: Harald Meyer / Christine Schirrmacher / Ulrich Vollmer (Hg.): Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften. Eine Geschichte in 22 Porträts. Großheirath: Ostasien-Verlag 2018, 43-64.
Hans-Joachim Klimkeit (1939-1999) übernahm 1970 zunächst kommissarisch und mit seiner Ernennung zum Ordinarius 1972 offiziell die Leitung des Seminars. Während er zu Beginn seiner Tätigkeit noch eher an Fragen in der Art Gustav Menschings nach dem Aufweis größerer geistesgeschichtlicher Zusammenhänge interessiert war, wurden alsbald Akzente sichtbar, die sich methodisch deutlicher an der philologisch-historischen Analyse eines Carl Clemen orientierten. Ein erster Schwerpunkt von Klimkeits Forschung waren zunächst religiöse und religionspolitische Strömungen des Hinduismus. Ausgehend von der indischen Religionsgeschichte und Fragen des religionsgeschichtlichen Vergleichs wurden aber seit dem Ende der 70er Jahre die zentralasiatische Religionsbegegnung und v.a. der östliche Manichäismus sein international beachtetes Forschungsgebiet.
Literatur: Wolfgang Gantke / Karl Hoheisel / Wassilios Klein (Hg.): Religionsbegegnung und Kulturaustausch in Asien. Studien zum Gedenken an Hans-Joachim Klimkeit. Wiesbaden: Harrassowitz 2002 (= Studies in Oriental Religions 49); Gabriele Reifenrath: Hans-Joachim Klimkeit (1939-1999). Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung seiner frühen Forschungen zu säkularen und politischen Bewegungen in Indien, in: Harald Meyer / Christine Schirrmacher / Ulrich Vollmer (Hg.): Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften. Eine Geschichte in 22 Porträts. Großheirath: Ostasien-Verlag 2018, 365-389.
Karl Hoheisel (1937-2011) war seit seiner Promotion im Jahre 1971 mit dem Religionswissenschaftlichen Seminar eng verbunden. Nach seiner Habilitation im Jahr 1974 wirkte er lange als Außerplanmäßiger Professor, ehe er 1995 auf eine neuerrichtete zusätzliche Professorenstelle berufen wurde. 2002 trat er in den Ruhestand, blieb aber dem Seminar bzw. der Abteilung für Religionswissenschaft auch in den weiteren Jahren eng verbunden. Im Mittelpunkt von Hoheisels wissenschaftlicher Arbeit standen das Judentum und die antike Religionsgeschichte - besonders auch im Verhältnis von Antike und Christentum. In systematischer Hinsicht interessierte er sich für Fragen der Religionspsychologie, Religionsgeographie und Religionsethnologie, die er methodisch für die Erschließung religiöser Bewegungen am Rande der abendländisch-christlichen Traditionen sowie neuerer Religionsbildungen fruchtbar machte.
Literatur: Manfred Hutter / Wassilios Klein / Ulrich Vollmer (Hg.): Hairesis. Festschrift für Karl Hoheisel zum 65. Geburtstag, Münster: Aschendorff Verlag 2002 (= Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband 34); Oliver Krüger (Hg.): Nicht alle Wege führen nach Rom. Religionen, Rituale und Religionstheorie jenseits des Mainstreams, Frankfurt am Main: Lembeck 2007; Manfred Hutter: Karl Robert Hoheisel (1937-2011). Vom Studium der Katholischen Theologie zur Professur für Vergleichende Religionswissenschaft, in: Harald Meyer / Christine Schirrmacher / Ulrich Vollmer (Hg.): Die Bonner Orient- und Asienwissenschaften. Eine Geschichte in 22 Porträts. Großheirath: Ostasien-Verlag 2018, 351-363.
Manfred Hutter kam im Jahr 2000 als Nachfolger von H.-J. Klimkeit an das Seminar. Sein methodischer Ansatz geht von philologisch-historischen Fragestellungen aus, die jedoch zugleich die Verflechtung konkreter Religionen mit ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext berücksichtigen. Forschungsschwerpunkte in religionshistorischer Hinsicht liegen auf dem Iran und dem Alten Orient, gegenwartsbezogene Verbindungen von Religionen und Gesellschaft berücksichtigen v.a. die Religionsvielfalt in Südostasien. Mit Ablauf des Sommersemesters 2023 trat er in den Ruhestand.
Im Jahre 1999 wurde – ursprünglich als lockerer – Forschungsverbund an der Universität Bonn ein „Asienzentrum“ eingerichtet, dem das Religionswissenschaftliche Seminar von Beginn an als assoziiertes Mitglied angehörte. Im Rahmen der Neustrukturierung der Philosophischen Fakultät durch die Einführung von BA- und MA-Studiengängen wurde im Jahr 2004 das Asienzentrum neu strukturiert, um als Lehreinheit gemeinsam solche Asienbezogene Studiengänge anzubieten, wobei das bislang nur assoziierte Religionswissenschaftliche Seminar Vollmitglied des Asienzentrums wurde. Aus diesem Prozess ging durch Beschluss des Senats der Universität Bonn im Sommer 2006 das „Institut für Orient- und Asienwissenschaften“ hervor, in dem nunmehr die „Abteilung für Religionswissenschaft“ neben sieben anderen Abteilungen besteht.